Das Interimsabkommen von 1972
Archivale des Monats August 2022
In seiner Beziehung zur 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sah sich Österreich von Beginn an mit dem Problem der Vereinbarkeit von Neutralitätsstatus und der womöglich aktiven Mitgestaltung der europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit konfrontiert. Zunächst wurde mit Dänemark, Schweden, Norwegen, Portugal, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich 1960 die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, mit dem Ziel, neben der Abschaffung der Binnenzölle ein alternatives Integrationsmodell zu bilden. Da eine gemeinsame Annäherung an die EWG nicht funktionierte, trieben die einzelnen Staaten diese jeweils im bilateralen Weg voran. Großbritannien, Dänemark und Norwegen beantragten bereits 1961 den Beitritt, die neutralen Staaten Schweden und Schweiz stellten gemeinsam mit Österreich im Dezember 1961 einen Assoziierungsantrag. Während erstere ihre Anträge nach dem Scheitern der britischen Beitrittsverhandlungen 1963 ruhen ließen, entschied sich Österreich für einen Alleingang und erneuerte das Ansuchen.
1967 scheiterte ein EWG-Arrangement am Veto Italiens aufgrund der Südtirol-Problematik. Als in diesem Punkt jedoch positiven Entwicklungen absehbar wurden, kam ab 1969 wieder Bewegung in die Annäherungsversuche. Ein angestrebtes Interimsabkommen zum Zollabbau mit der mittlerweile als EG (Europäische Gemeinschaft) firmierenden Organisation, welche die EWG, EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) und EURATOM (Europäische Atomgemeinschaft) in sich vereinte, konnte zunächst aber nicht erzielt werden, was sich nach neuerlichen Verhandlungen im Jahr 1970 ändern sollte. Die Schaffung einer die EG- und EFTA-Staaten umfassenden Freihandelszone wurde nun angepeilt.
Am 26. Oktober 1970 erteilte der EG-Ministerrat das Mandat zu Verhandlungen über ein Interimsabkommen mit Österreich. Außenminister Rudolf Kirchschläger erläuterte am 10. November 1970 vor dem EG-Ministerrat die österreichischen Wünsche, nämlich die Beseitigung sämtlicher Zölle und anderer Handelshemmnisse. Nachdem unmittelbar danach auch die Verhandlungen mit den nicht beitrittswilligen EFTA-Staaten aufgenommen worden waren, sprach sich die EG im Juli 1971 für eine Freihandelszone aus. Intensive Gespräche gipfelten schließlich am 22. Juli 1972 im Abschluss eines Vertragswerkes, welches unter anderem ein Freihandelsabkommen sowie ein Interimsabkommen zwischen Österreich und der EWG umfasste. Das sah einen um drei Monate vorgezogenen Beginn des Zollabbaus (ab 1. Oktober 1972) im Vergleich zu den übrigen EFTA-Staaten vor, was als eine Art Belohnung für den Alleingang in den 1960er Jahren interpretiert werden kann. Für Österreich unterschrieben im Egmont-Palast in Brüssel Bundeskanzler Bruno Kreisky und Handelsminister Josef Staribacher.
Dieter Lautner
Signatur: ÖSTA/ADR, Staatsurkunden, EWG 22.7.1972