Der Terroranschlag in Marchegg 1973
Archivale des Monats September 2023
Vor 50 Jahren, am 28. September 1973, erreichte der internationale Terror zum ersten Mal Österreich. Zwei Mitglieder der Saika, einer Gruppe innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), nahmen um 10.30 Uhr vormittags in einem Zug aus Bratislava bei der Zollkontrolle am Bahnhof Marchegg sechs Geiseln. Neben einem Zöllner handelte es sich um fünf jüdische Emigranten aus der Sowjetunion, von denen zwei fliehen konnten. Die Aktion richtete sich gegen die Auswanderung russischer Jüdinnen und Juden nach Israel, die seit 1965 von der Jewish Agency, der Einwanderungsorganisation Israels, über Österreich organisiert wurde. Im Schloss Schönau, 30 Kilometer südlich von Wien, wurden die Menschen aufgenommen und auf die Weiterreise vorbereitet.
Nachdem palästinensische Gruppen seit Beginn der 1970er Jahre vermehrt durch Terrorakte auf ihre Sache aufmerksam gemacht hatten, geriet auch die jüdische Emigration aus dem Osten zunehmend ins Visier. Wiederholte Drohungen gegen Schönau veranlassten den österreichischen Staat, eine Spezialeinheit zu gründen, aus der später die Polizeisondereinheit Cobra hervorging. Ihre Aufgabe war es, Schloss Schönau, die Beförderung vom Wiener Ostbahnhof dorthin und die Fahrt zum Flughafen zu sichern. Auf einen Anschlag bei der Einreise war Österreich allerdings nicht vorbereitet.
Nach einem Schusswechsel am Bahnhof Marchegg fuhren die Terroristen mit den vier Geiseln in einem VW-Pritschenwagen in Richtung Flughafen Schwechat, wo sie auf einem Rollfeld Stellung bezogen. Eine Befreiungsaktion kam für die Verantwortlichen angesichts der Ereignisse bei den Olympischen Spielen 1972 in München, wo neun israelische Sportler ums Leben gekommen waren, nicht in Frage.
Im Bundeskanzleramt wurde ein Sonderministerrat als Krisenstab einberufen und bis nach Mitternacht unter Einbeziehung arabischer Diplomaten zäh verhandelt. Bundeskanzler Bruno Kreisky gab schließlich den Forderungen der Geiselnehmer nach und sicherte die Schließung des Transitlagers Schönau zu. Nach der Verlesung einer Erklärung des Ministerrats im Radio flogen die Terroristen um 2.20 Uhr ohne Geiseln aus Wien ab. Die folgenden internationalen Reaktionen, mit denen sich vor allem Kreisky konfrontiert sah, waren entsprechend negativ, doch die jüdische Emigration lief auch in den Folgejahren weiter. Organisiert wurde sie nach der Schließung von Schönau durch das Rote Kreuz, das die Emigrantinnen und Emigranten zunächst in Wöllersdorf, dann in Kaiserebersdorf aufnahm und betreute. Bis zum Ende des Kalten Krieges war Österreich Durchgangsstation für mehr als 250.000 osteuropäische Jüdinnen und Juden auf ihrem Weg nach Israel.
Dieter Lautner
Signatur: ÖSTA/ADR, Ministerratsprotokoll Nr. 87a, 28.9.1973