Aufbruch zu neuen Ufern: Die ersten Nationalratswahlen der 2. Republik

Archivale des Monats November 2020
 
Der Bericht der Polizeidirektion Linz zeichnet ein optimistisches Stimmungsbild, das nach der Wahl im Land herrschte.

Bereits in der Geburtsstunde der Zweiten Republik stellte sich die Frage nach der Abhaltung freier Wahlen. In der gemeinsam mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 erfolg­ten Kundmachung, die die Kabinettsliste der Provisorischen Staatsregierung enthielt, wurde die Wahl einer Volksvertretung zum ehestmöglichen Zeitpunkt in Aussicht gestellt. Am 25. No­vember 1945 fanden schließlich in ganz Österreich auf Bundes- und Landesebene freie Wahlen statt, der erste bundesweite Wahlgang seit dem Jahr 1930.

Wahlversammlungen spielten im Wahlkampf 1945 eine ungleich größere Rolle als heute. Neben Flugblättern und Plakaten waren sie das zentrale Element der Wahlbewegung. Sie ermöglichten es, die Politiker und die Standpunkte der Parteien unmittelbar kennenzulernen. Dementspre­chend gut besucht waren die Veranstaltungen, die in den Wochen vor der Wahl in großer Dichte stattfanden. Insgesamt verlief der Wahlkampf 1945 kultiviert und moderat. Alle Parteien waren sich der besonderen Situation, in der dieser Wahlgang stattfand, bewusst. Erst gegen Ende ver­schärfte sich der Ton zwischen den Parteien.

Am Wahltag bildeten sich von der Früh an, ungeachtet des nasskalten Novemberwetters, das am 25. November 1945 herrschte, Schlangen vor den Wahllokalen. Die Wahlbeteiligung lag bei über 94 Prozent. Bald nach Beginn der Stimmauszählung zeigte sich, dass die KPÖ überall deutlich unter den hochgesteckten Erwartungen blieb. Am Ende der Stimmenauszählung hatte die Volkspartei die absolute Mandatsmehrheit errungen – ein Resultat, mit dem vor der Wahl kaum jemand gerechnet hatte. Umgekehrt verhielt es sich mit der KPÖ. Hier stand die längste Zeit nicht fest, ob sie überhaupt im neuen Parlament vertreten sein würde. Die ÖVP verfügte im neu gewählten Nationalrat über 49,8 Prozent der Stimmen und 85 Mandate, die SPÖ über 44,6 Prozent und 76 Mandate und die KPÖ über magere 5,4 Prozent und vier Parlamentssitze. Zwar war die SPÖ deutlich hinter der ÖVP nur an zweiter Stelle geblieben, doch konnte auch sie dem Ergebnis erfreuliche Gesichtspunkte abgewinnen. Am wichtigsten war aus sozialistischer Sicht die Tatsache, dass es der KPÖ nicht gelungen war, das linke Lager zu spalten.

Der beiliegende Bericht der Polizeidirektion Linz zeichnet ein optimistisches Stimmungsbild, das nach der Wahl im Land herrschte, geknüpft jedoch an konkrete Erwartungen. Es galt also keine Zeit zu verlieren. Nach kurzen Regierungsverhandlungen stand eine Konzentrationsregierung unter dem Spitzenkandidaten der ÖVP, Leopold Figl, fest. Am 19. Dezember 1945 konstituierten sich der neue Nationalrat sowie der Bundesrat. Einen Tag später wählte die Bundesversamm­lung den bisherigen Staatskanzler, Karl Renner, zum ersten Bundespräsidenten. Noch am sel­ben Tag gelobte dieser die aus ÖVP, SPÖ und KPÖ bestehende Regierung Figl I an. Drei Tage vor Weihnachten, am 21. Dezember 1945, gab Figl seine Regierungserklärung vor dem Nationalrat ab.

Helmut Wohnout
Signatur: AT-OeStA/AdR BMI/GenDionBerichte/OÖ/GZ 54369-2/45