Attentat auf Bundeskanzler Seipel 1924

Archivale des Monats Juni 2024

Ausschnitt aus dem Polizeiprotokoll
Unterhalb des Textes können Sie den gesamten Bericht der Polizeidirektion sowie den Abschiedsbrief an Jaworeks Frau als PDF herunterladen. 

Vor genau 100 Jahren, am 1. Juni 1924, wurde auf den damaligen Bundekanzler Ignaz Seipel ein Attentat verübt. Der Täter, Karl Jaworek aus Pottendorf, schoss auf dem Bahnsteig des Wiener Südbahnhofs mit einem Trommelrevolver auf den Kanzler, nachdem beide aus einem aus Wiener Neustadt kommenden Zug ausgestiegen waren. Seipel, der zunächst gar nicht bemerkt hatte, was wirklich passiert war und erst kurz darauf zusammenbrach, erlitt einen Lungensteckschuss. Eine weitere Kugel streifte ihn. Noch bevor der Schütze überwältigt werden konnte, richtete dieser die Waffe gegen sich selbst und schoss sich ebenfalls in die Lunge. Beide überlebten schwer verletzt.

Der Anschlag steht vor dem Hintergrund einer wirtschaftlich wie auch politisch äußerst schwierigen Zeit. Seipel war es zwar gelungen, durch eine Anleihe beim Völkerbund den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, der damit verbundene Sparkurs verschlimmerte jedoch die Lage vieler Menschen im Land und brachte ihm viel Kritik ein. Die Fronten zwischen den beiden großen politischen Gruppierungen waren entsprechend verhärtet und so verwundert es nicht, dass viele Christlich-soziale die Schuld an dem Attentat zunächst bei den Sozialdemokraten suchten. Die Ermittlungen der Polizei ergaben aber, dass es sich bei Jaworek um einen Einzeltäter handelte, der sowohl in den Vernehmungen als auch in einem Abschiedsbrief an seine Frau die Schuld an seiner Misere dem Kanzler gab. Eine Abschrift dieses Briefes sowie ein erster Ermittlungsbericht der Polizeidirektion in Wien vom 4. Juni zeigen Motiv und den genauen Ablauf der Geschehnisse.

Ignaz Seipel trat im November 1924 als Bundeskanzler zurück, bekleidete dieses Amt aber noch einmal von 1926 bis 1929. Die Strafe für Karl Jaworek im folgenden Prozess fiel mit fünf Jahren schweren Kerkers relativ milde aus. Er zeigte sich reuig und wurde nach zweieinhalb Jahren von Seipel begnadigt. In einem ORF-Bericht aus dem Jahr 1973 wird der zu diesem Zeitpunkt bereits fast 80-jährige Jaworek zu dem Attentat befragt („Gut machen tät ich’s wollen, wie wenn’s gar net gschehn wär“).

Dieter Lautner
Signatur: ÖSTA/ADR, Bundeskanzleramt/Inneres, Signatur 22/NÖ, GZ. 79176/1924