Künstlertreffen im k.u.k. Garnisonsspital Nr. 2
Das Archivale des Monats August 2024
Der Maler Erwin Osen wurde am 20. April 1915 aus dem k.u.k. Garnisonsspital Nr. 2 in Wien entlassen. Am selben Tag wurde der Komponist und Sänger Bruno Granichstaedten dort aufgenommen. Ein von Osen gemaltes Porträt Granichstaedtens legt nahe, dass sich die beiden Künstler bei dieser Gelegenheit persönlich begegneten.
Mit der Ausstellung „The Body Electric: Erwin Osen - Egon Schiele“ präsentierte das Leopold Museum 2021 erstmals die Zeichnungen Osens, die während des Ersten Weltkriegs im Garnisonsspital Nr. 2 entstanden sind. Vermutlich gab der damalige Chefarzt der Nervenabteilung, Stefan Jellinek, die Patientenbilder in Auftrag. Jellinek wurde vor allem durch seine Forschungen zur Elektropathologie international bekannt.
Die Zeichnung, die Bruno Granichstaedten zeigt, ist auf den 26. April 1915 datiert, also auf wenige Tage nachdem er mit der Diagnose Neurasthenie (Nervenerschöpfung) in das Garnisonsspital eingeliefert worden war. „Seit 5-6 Jahren angeblich hochgradige Nervosität, Herzkrämpfe, Augenflimmern, häufige Kopfschmerzen, Schwindel ... Neurasthenie mittleren Grades“, notierte Oberarzt Jellinek auf dem im Österreichischen Staatsarchiv, Abteilung Kriegsarchiv, verwahrten Spitalvormerkblatt. Granichstaedten blieb 13 Tage. Entlassen wurde er am 3. Mai 1915.
Der Musiker muss zu diesem Zeitpunkt bereits eine bekannte Künstlerpersönlichkeit gewesen sein, denn er war ein etablierter Operetten-Tenor und trat in Kabaretts auf. Nur einen Monat vor seiner Aufnahme im Garnisonsspital hatte seine erfolgreiche Operette „Auf Befehl der Kaiserin“ in Wien Premiere. In Österreich-Ungarn wurde das Stück über die junge Maria Theresia allerdings unter dem Titel „Auf Befehl der Herzogin“ aufgeführt, um der Zensur zu entgehen.
Auch Erwin Osen war 1915 kein Unbekannter mehr. Er war 1909 neben Egon Schiele Mitbegründer der „Neukunstgruppe“, die unter anderem einen eigenen österreichischen Farbexpressionismus schuf. Großes Lob erntete 1914 außerdem sein Bühnenbild für eine rund ein halbes Jahr vor Kriegsausbruch aufgeführte Parsifal-Inszenierung am Neuen Deutschen Theater in Prag.
Osen wurde am 9. März 1915 in das Garnisonsspital eingeliefert und erhielt von Stefan Jellinek die Diagnose „konstitutionelle Neurasthenie mit fazialem Tic“, also mit Zuckungen der Gesichts- und Halsmuskulatur. Jellinek vermerkte weiter: „Hofrat von Wagner beobachtet den Patienten und hält ihn für völlig dienstuntauglich.“ Laut Wagner litt Osen an „psychopathischer Minderwertigkeit“. Osen verbrachte 42 Tage im Garnisonsspital und konnte es eben an dem Tag verlassen, an dem Bruno Granichstaedten aufgenommen wurde und das Zimmer mit der Nummer 79 bezog.
Der 1879 in Wien geborene Bruno Granichstaedten wurde bis Kriegsende in verschiedenen Spitälern behandelt. Sein größter Erfolg, die Operette „Der Orlow“, wurde 1925 in Wien uraufgeführt. 1940 emigrierte er in die USA, wo er sich teilweise als Pianist in Nachtbars durchschlug. Er starb 1944 in New York.
Der 1891 in Wien geborene Erwin Osen wurde am 20. Mai 1915 als Invalide „superabitriert“, das heißt aus dem Militärdienst entlassen. Er galt jedoch als arbeitsfähig, seine Gebrechen seien nicht durch den Kriegsdienst verursacht worden. Als Künstler war Osen ungewöhnlich vielseitig und in den unterschiedlichsten Kunstrichtungen tätig. Er starb 1970 in Dortmund.
Stefan Jellinek, 1871 im heutigen Přerov geboren, emigrierte 1938 nach Großbritannien und lehrte am Queen’s College in Oxford. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam er jedoch mehrmals im Jahr nach Wien, um das von ihm 1909 gegründete und bis zuletzt von ihm betreute Elektropathologische Museum zu besuchen und um Vorlesungen an der Technischen Universität Wien zu halten. Er starb 1968 in Edinburgh.
Michael Mayr/Alexander Zechmeister
Signaturen:
- AT-OeStA/KA VL MilSpit Land W GSpit. 106
- AT-OeStA/KA VL MilSpit Land W GSpit. 262